Das Nähmaschinenwerk Wittenberge

Mit dem Nähmaschinenwerk Wittenberge wird erstmals eine Fabrik zum Historischen Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland ausgezeichnet. Maßgebend dafür ist das Hauptgebäude des Werkes von 1907 als früher, großer und sehr leistungsfähiger Eisenbetonskelettbau sowie das weit entwickelte Konzept der Fabrik. Das „Gebäude 07“ bietet zudem ein interessantes Detail: Vermutlich haben allein Bauingenieure – ohne Architekten – diesen Hochbau geplant. „Künstler-Architekten“ schmähten vielfach derartige „anonyme Ingenieurarchitektur“. Doch der berühmte Bauhaus-Architekt Walter Gropius lobte das Gebäude 07 wegen seiner konsequenten Gestaltung.

„Die Gebäude wurden nicht nur in den jeweils innovativen Bautechniken ausgeführt, sondern bargen auch alle technischen Einrichtungen, die zu einem autarken Betrieb des Nähmaschinenwerks notwendig waren.“

Ulrike Schwarz, Denkmalpflegerin, 18. Juli 2011, Beurteilung des Baudenkmals Nähmaschinenfabrik

Das Gebäude 07

Das Gebäude 07 ist 200 Meter lang und vier Geschosse hoch, wurde 1936 um ein Staffelgeschoss ergänzt. Dieser von den Bauingenieuren der Wayss & Freytag AG routiniert entworfene Bau wurde in nicht mal 6 Monaten errichtet, hatte vor der Aufstockung eine außergewöhnlich hohe Tragfähigkeit von 1,6 t je m². Walter Gropius zeigte ihn 1911 in einem Vortrag und betonte seine gelungene Architektur, weil das den Bau bestimmende Eisenbetonskelett auch außen sichtbar wird. Doch Gropius wusste nicht, dass die Fabrik in Wittenberge steht. In einer Dissertation von 2021 wird das Gebäude 07 schließlich fälschlicherweise sogar in Nordamerika verortet.

 

Foto: Werkhalle (Copyright: Sven Bardua)

Die Logik dahinter: Damalige nordamerikanische Fabriken, ebenfalls von Gropius gelobt, sind dem Gebäude 07 in Wittenberge ähnlich. Dies betrifft vor allem die von Albert und Julius Kahn für Packard und Ford in Detroit entworfenen Automobilfabriken. Dem Gebäude 07 ähnlich ist auch die allgemein als bedeutende Architektur gehandelte Hochspannungsfabrik im AEG-Werk am Humboldthain in Berlin, entworfen von dem Architekten Peter Behrens und dem Bauingenieur Karl Bernhard. Doch das Gebäude 07 in Wittenberge ist zwei Jahre älter als die Hochspannungsfabrik.

Das moderne Konzept der Fabrik

Die amerikanische Singer Manufacturing Company hatte für ihr zweites Nähmaschinenwerk in Europa – nach dem in Clydebank beim schottischen Glasgow von 1883 – einen verkehrsgünstigen Standort mit viel Platz gesucht. Singer fand ihn im Osten von Wittenberge. Die aufstrebende Industriestadt bot einen Eisenbahnknoten zwischen Berlin, Hamburg und Magdeburg, außerdem einen Hafen allein für Singer direkt an der Elbe, schließlich eine große Anzahl von Arbeitskräften aus der ländlichen Prignitz und Altmark. Auf dieser Basis begann in Wittenberge 1904 die Herstellung von Nähmaschinen. Allmählich entstand hier die größte Fabrik zwischen Berlin und Hamburg mit bis zu 3.200 Beschäftigten. Ende 1991 stellte sie die Nähmaschinenproduktion ein; seitdem dienen die Bauten als Gewerbehof „Veritas Park“.

 

Historisches Foto (Copyrigth: Eckert & Pflug, Leipzig)

 

Von Beginn an funktionierte das Werk als weitgehend selbstständiger Organismus mit einem eigenen Kraftwerk für Strom, Wärme, Pressluft und Druckwasser, einem Hafen mit elektrischen Kranen und einer Werkbahn, die seit 1922 eine Elektrolok einsetzte. Der frühe Einsatz von Sprinkleranlagen für den Brandschutz sowie die aufwendige Wasserversorgung sind ebenso dokumentiert wie die bis heute mit Tropfkörpern betriebene Kläranlage. Auch die Tunnelanlagen für den witterungsunabhängigen Transport zwischen den Bauten und die in den Unterzügen des Eisenbetonskeletts eingelassenen Ankerschienen als Aufhängesystem für die einst verwendeten Transmissionen sind charakteristisch für die Fabrik.

Die Planer des Nähmaschinenwerks

Verantwortlich für die erste Bauphase mit Gießerei, Putzerei, Versandgebäude, Krafthaus, Büro und Fabrikantenvilla im Nachbarort Breese waren – nach allem, was bekannt ist – der Bauingenieur Victor Kuhn und der Architekt Georg Rathenau, beide aus Berlin. Das 1906/07 errichtete Hauptgebäude 07 plante dagegen die aufstrebende Betonbaufirma Wayss & Freytag als modernen Eisenbetonskelettbau vor allem mit dem Hamburger Niederlassungsleiter Paul Thiele (1877–1968). Dann machte sich der Oberingenieur Thiele 1912 als Bauunternehmer in Hamburg selbstständig. Seine spätere Paul Thiele AG baute bis zum Zweiten Weltkrieg alles für Singer in Deutschland, nicht nur in Wittenberge. Schon seit den 1920er Jahren entwickelte sich Thiele außerdem zu einem wichtigen Akteur bei der Verwendung von Fertigteilen aus Stahlbeton.

Foto: Erweiterungsbau Wayss & Freytag (Copyright: Archiv Veritasklub)

Für die Bauten der Zwischenkriegszeit holte Thiele sich die Hamburger Architekten Felix Ascher, Bernhard Oberdieck und Franz G. Richter nach Wittenberge. Ascher und Oberdieck planten unter anderem das Gebäude 22, mit seinen wuchtigen Treppentürmen die heutige Schauseite der Fabrik. Im Kern ist der Bau dem Gebäude 07 sehr ähnlich. Und daneben entstand 1929 der expressionistische Wasser- und Uhrenturm als Wahrzeichen des Werkes und der Stadt – ebenfalls nach Entwurf von Felix Ascher.

Die Publikation über das Nähmaschinenwerk Wittenberge können Sie hier bestellen.