Eine Idee wird Realität – wie das Zeltdach des Olympiastadions den Ingenieurbau Deutschlands prägte
Zu den Olympischen Spielen in München 1972 fertiggestellt, ist die Zeltdachkonstruktion für den Ingenieurbau prägend. Das Zeltdach des Olympiastadions zeichnet sich dadurch aus, dass für die damalige Zeit modernste, weitgehend eigens dafür entwickelte Techniken zum Einsatz kamen. Die zahlreichen Entwicklungen waren später noch für die Konstruktion von Dächern und Brücken richtungsweisend. Die aus dem Bau des Zeltdaches gewonnenen Erkenntnisse wurden aufgearbeitet und weiter erforscht. So wurde in Zusammenarbeit mit den beteiligten Büros eigene Sonderforschungsbereiche an der Universität Stuttgart gegründet.
Auch die enge Zusammenarbeit von Architektur und Ingenieurbau gilt heute noch als vorbildlich. Mut und Innovationsgeist der damaligen Projektteams waren Ausgangspunkt für die Gründung namhafter Ingenieurbüros mit weltweiter Strahlkraft. Die Idee der Architekten um Günter Behnisch wurde erst durch die Ingenieurleistung möglich und zu einem heutigen Wahrzeichen Münchens. Die Realisierung des Zeltdaches war mit formgebend für die Architektur des Olympiaparks.
Eine Idee wird Realität – das Motto
Der 1967 ausgeschriebene Wettbewerb lautete: „Spiele im Grünen, Olympiade der kurzen Wege, Fest der Musen und des Sports, Spiele der Jugend“. Entwurf und Gestaltung der Sportstätten und des Olympiaparks wirken heute noch als die ideale Übersetzung des Wettbewerbsmottos. Als Erdstadion konzeptioniert, mit Verbindung von Topografie und Architektur, und Einbindung in eine Parklandschaft ist der Olympiapark aktuell noch ein Beispiel für nachhaltiges Bauen. Die transparente und wenig monumentale Anmutung sowie der ressourcenschonende Materialeinsatz des Zeltdaches tragen ihr Übriges dazu bei.
Eine Idee wird Realität – das Zeltdach
Die Idee des Zeltdaches ging auf den durch den Architekten Frei Otto erbauten Deutschen Pavillon für die Expo 1967 in Montreal zurück. Die angedachte Überdachung des Olympiastadions und des gesamten Olympiaparks stieß jedoch in völlig neue Dimensionen vor. Eine 1:1-Umsetzung des Entwurfs war nicht möglich, die Realisierung eines Zeltdaches in dieser Größenordnung technisch, zeitlich und finanziell umstritten. Nur durch die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Ingenieuren unter Leitung von Jörg Schlaich mit enger Verzahnung der planenden Berufe konnte es in seiner abschließenden Form realisiert werden. Das Zeltdach als Unikat löste eine Vielzahl an Innovationen für den heutigen Bau von Brücken und Dächern aus. Dazu zählen u. a. die Weiterentwicklung der Stahlgusstechnologie, dauerschwingfeste Verankerungen und Klemmen für Seile und Litzen sowie die enge Umlenkung verschlossener Seile, die dehnbaren, hochpräzisen, vorgefertigten Seilnetze, der erste große CAD-Einsatz und die Erd-Anker.
Eine Idee wird Realität – die Dachhaut
Das Material, mit dem die Dachhaut erstellt werden sollte, war lange umstritten. Das Entwurfsmodell aus Feinstrumpfhosen brauchte eine realisierbare Lösung. Eine Tuchlösung wurde verworfen. PVC-Folien- und Metallschindeleindeckungen standen ebenfalls zur Diskussion. Letztlich bekam die heutige Acrylglaseindeckung den Zuschlag. Ausschlaggebend war hier die Erfahrung der Olympischen Spiele 1968 in Mexico City: Die Qualität der Fernsehbilder litt unter dem Schattenwurf des Stadiondaches. Man näherte sich damit auch der Entwurfsidee einer lichtdurchlässigen Dachhaut an. Aufwendig wurde die Eignung des Materials getestet. Das Acrylglas durfte im Brandfall weder weiterbrennen noch abtropfen. Ein Brechen unter Schneelast musste verhindert werden. Zudem wurden Montage und Instandhaltung durch die Begehbarkeit des Daches berücksichtigt.
Eine Idee wird Realität – computerbasierte Berechnungen
Bereits als der Bau des Zeltdaches begonnen hatte, fand Professor John H. Argyris (Universität Stuttgart) ein mathematisch-elektronisches Berechnungsverfahren, das es ermöglichte, leichte räumliche Tragwerke in den Dimensionen des Daches exakt zu berechnen. So wurden die Bewegungen von hunderten Seilknoten in Rastermaßen bei Belastung simuliert. Denn drückt die Last auf einen beliebigen Knoten, bewegen sich sämtliche Punkte in drei Dimensionen – Simulationen, die ohne computerbasierte Modelle kaum nachvollziehbar abzubilden gewesen wären. Auch in diesem Bereich wurden neue Maßstäbe für den weiteren Ingenieurbau gesetzt.
Details zum Zeltdach des Olympiastadions
Zum größten Teil überspannt das Dach die Haupttribüne auf der Westseite des Stadions, mit etwa 34.550 Quadratmetern. Jeweils zwei 70 Meter hohe und sechs etwas kleinere Masten wurden errichtet. Deren Abspannungen wurden an den Tiefpunkten hinter der Tribüne verankert. Da Stützen im Tribünenbereich vermieden werden sollten und eine Verankerung auf der Vorderseite der Tribüne im Bereich des Spielfelds ausschied, wurde ein 440 Meter langes Rundseil gespannt. Es verläuft im Bogen von der Nordseite des Stadions über die Haupttribüne bis zur Südseite.
Zur Verankerung an den Endpunkten des Rundseils dienen 4.000 Tonnen schwere Betonquader, die teilweise bis zu 30 Meter tief im Boden eingelassen sind. Auf dem Rundseil sind zwei der vier Flutlichtbatterien befestigt. Mehr als 12.700 Plexiglasplatten wurden insgesamt für das Zeltdach verwendet. Die Abstände zwischen den Knotenpunkten wurden auf 75 cm festgelegt.
Bauherr: Olympia-Baugesellschaft mbH; Hauptgeschäftsführer Carl Mertz
Entwurf, Ausführungsplanung und künstlerische Oberleitung – Architekten und Ingenieure:
– Behnisch & Partner: Fritz Auer, Winfried Büxel, Johannes Albrecht, Horst Stockburger, Cord Wehrse
– Frei Otto: Ewald Bubner, Ulrich Hangleitner, Matthias Kreuz
– Leonhardt und Andrä: Jörg Schlaich, Rudolf Bergermann, Knut Gabriel, Günter Mayr, Ulrich Otto
Ingenieure in beratender Funktion und Institute:
Bauphysik und Materialtechnik: Prof. Wilhelm Schaupp
– Prüfingenieur: Prof. Herbert Kupfer
– Messmodelle: Institut für Leichte Flächentragwerke, Technische Universität Stuttgart, Prof. Frei Otto
– Tages- und Kunstlichtverhältnisse: Institut für Lichttechnik, Technische Universität Berlin, Prof. Jürgen Kochmann
– Bodenmechanik: Institut für Grundbau und Bodenmechanik, Technische Universität München, Prof. Richard Jelinek
– Vermessung: Institut für Anwendung der Geodäsie im Bauwesen Technische Universität Stuttgart, Prof. Klaus Linkwitz
– Mathematisch-elektronische Berechnung: Institut für Statik und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen, Technische Universität Stuttgart, Prof. John H. Argyris
– Windkanaluntersuchungen: Bayerische Landesgewerbeanstalt München
Stahlbauarbeiten: Arbeitsgemeinschaft Stahlbau Dach: Aug. Klönne Friedrich Krupp GmbH, Maschinen- und Stahlbau Rheinstahl-Union AG, Steffens & Nölle GmbH, Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke AG, Waagner-Biro AG
Dachhaut: Arbeitsgemeinschaft Olympia-Lichtdach: Rheinhold & Mahla GmbH (Mannheim), Schöninger GmbH (München)